Die Feinde der Zeit

Adrian Tchaikovky

Mit dem dritten Roman seiner fortlaufenden Serie „Die Feinde der Zeit“ ist der Brite Adrian Tchaikovsky mit dem HUGO für die beste Serie ausgezeichnet worden. Der Titel ist ein wenig irreführend, denn im Original heißt das Buch deutlich treffender „Children of Memory“ und die Idee der echten und manipuliert künstlichen Erinnerungen; der Erschaffung eines fiktiven Paradies und schließlich auch die Sehnsucht nach der von Menschen ökologisch zugrunde gerichteten Erde sind ein wichtiger Bestandteil der sich nicht an die ersten beiden Teile anschließenden Handlung.

Bei einer Stephen Baxters literarische Dimensionen noch überbietenden,  fortlaufenden Serie mit zahlreichen Protagonisten und gefühlt noch mehr unterschiedlichen Handlungsorten stellt sich die Frage, ob es notwendig ist, sowohl den bislang ersten Band der Serie „Die Kinder der Zeit“ wie auch „Die Erben der Zeit“ gelesen zu haben, um „Die Feinde der Zeit“ restlos zu verstehen. Die Antwort darauf ist ja und nein.  Ja, da der Hintergrund immer wieder kurz angerissen und einzelne Querverbindungen erläutert werden. Nein, weil die Geschichte für sich alleinstehend ist und in ihrer Emotionalität vielleicht sogar von den eher technischen ersten beiden Teilen der Serie überdeckt wird. Im Grunde ist „Die Feinde der Zeit“ Tchaikovskys „Lost“… eine verrückte Reise durch unbekanntes Terrain über Generationen mit einem auf der einen Seite pragmatischen, aber in dieser Konstellation logischen Ende, auf der anderen Seite aber auch mit einer Spur von Vergänglichkeit.

Dabei nutzt der Autor klassische Elemente der Science Fiction. Die Haupthandlung ist die Geschichte eines Generationenschiffs, das mit seiner Crew und tausenden von eingefrorenen Menschen zu einem neuen, hoffentlich paradiesischen Planeten unterwegs ist. Nach einem anscheinend mit biologischen Waffen geführten Krieg ist die Erde unbewohnbar und die ausgeschickten Archen zu unterschiedlichen Planeten sind die letzte Hoffnung der Menschheit.  Die Ziele sollen aber nicht von den eintreffenden Menschen terraformt worden, sondern anscheinend hat eine uralte Rasse diese Arbeit schon übernommen. Das im Mittelpunkt stehende Raumschiff erreicht einen Planeten namens Imir. Der Terraformingprozess ist aber nicht zufriedenstellend verlaufen, denn außer einer atembaren Atmosphäre handelt es sich um eine unwirtliche Welt. Hinzu kommt, dass kurz vor der Landung einige tausend der Kolonisten durch einen Unglücksfall in ihren Schlafkapseln ums Leben kommen und selbst die potentielle Landung auf dieser Welt weiteren Schläfern das Leben kostet wird. Ob die Kolonie auf dem  unwirtlichen Planeten überhaupt eine Überlebenschance hat, steht auf einem anderen Blatt. Die menschliche Gabe zur Improvisation unter unmöglichen Bedingungen ist gefordert.

Die zweite Haupthandlung bezieht sich deutlich mehr auf die beiden schon angesprochenen ersten Romane der Serie. Ein Raumschiff mit den intelligenten Spinnen und Tintenfischen, aber auch Menschen der nächsten Generation erreicht nach einer bestimmten Zeit auch den Planeten Imir. An Bord befindet sich Miranda, die vielleicht bislang komplexeste Persönlichkeit der Serie. Sie ist ein Teil der ganze Planeten umspannenden Intelligenz, den Nod, welche Adrian Tchaikovkys in einem der vorangestellten Romane entwickelt hat. Die Vorlage zu Miranda ist allerdings ein Mensch, was sie für das Schicksal der Menschen verfänglicher macht.  An Bord des Raumschiffs befindet sich mit der künstlichen Intelligenz Kern (oder besser ebenfalls einem Teil der künstlichen Intelligenz Kern) ein Ansprechpartner auf Mirandas Niveau, wobei das gemeinsam Ziel der beiden Überkreaturen ist, das jeweilige Schicksal der Archen auf den einzelnen angesteuerten Welten herauszufinden.

Und mit dieser Ausgangsprämisse beginnen sich die beiden Spannungsbögen auf eine herausfordernde, die Aufmerksamkeit der Leser aber auch im mittleren, sehr konstruiert wirkende wie strapazierende Art und Weise zu verbinden.   

Neben dem tapferen Kapitän angesichts seines eigenen Kobayashi Maru Tests – dessen Ergebnis der Leser erst am Ende des Buches in vollem Umfang erkennen wird – ist es die jugendliche Liff, impliziert das Mitglied der zweiten oder dritten Generation von Siedlern, durch deren Augen der Leser den Planeten sieht. Es entwickelt sich ein Science Fantasy Szenario, das für eine Reihe von Autoren der fünfziger bis siebziger Jahre durchaus typisch gewesen ist. Tchaikovsky ist kein Clifford D. Simak, der mit viel Herzblut und einem feinen Gespür für Charaktere und deren Handlungen selbst absurde Szenarien plausibel und emotional immer auf Augenhöhe niederschreiben konnte. Daher wirkt ein fremder, anfänglich als herausfordernd beschriebener Planet mit Hexen und Märchenabenteuern aus dem Traumland verstörend und distanzierend zugleich.

Rückblickend machen diese Visionen Sinn, denn sie sind der erste Schritt einer Konmunikation zwischen Liff als Vertreterin der Siedler und Miranda, der perfekten Symbiose zwischen einem Menschen der „alten Erdschule“ und der nächsten evolutionären Stufe. Miranda versucht das Vertrauen von Liff zu erlangen und ihr gleichzeitig Bruchstücke der menschlichen Geschichte aus der imaginären Nase zu ziehen. Ergänzt wird diese Vorhaben durch die einzelnen Mitglieder der Raumschiffbesatzung, von denen vor allem die Crew der Portia dem Leser aus „Die Erben der Zeit“ vertraut sein könnten.  Paul und Fabian erscheinen neben der schon angesprochenen K.I. Averna Kern die Protagonisten, welche in dem teilweise zu detailverliebt und dadurch phlegmatisch wirkenden Szenario am Dreidimensionalsten entwickelt worden sind. Tchaikosvky verlangt von seinen Lesern Geduld und schenkt ihnen rückblickend das gesamte Szenario betrachtend erstaunlich wenig. Je weiter die literarische Reise in diesem Roman voranschreitet, umso schwieriger wird es, den Plot als Einheit zu betrachten und sich nicht von einzelnen gelungenen Szenen in den Bann ziehen zu lassen.

Averna Kern als ehemalige Wissenschaftlerin und jetzt K.I. ist eine deutlich mehr faszinierende Figur als die pragmatisch handelnde, aber direkt in das Szenario eingreifende Miranda. Die langen Dialoge zwischen diesen beiden unterschiedlichen Entities auf einer allerdings emotionalen, nicht kitschigen Basis sind die frühen Höhepunkte dieses Buches. Auch wenn die Ziele von Miranda und Kern hinsichtlich ihrer Mission gleich sind, könnte die Vorgehensweise nicht anders sein. In einem Kosmos mit intelligenten Spinnen oder Tintenfischen oder gänzlich neu Tieren, die an Raben erinnern, ist vieles möglich und alle Wege führen nicht unbedingt nach Roman, aber an ein Ziel.

Adrian Tchaikosvky könnte vorgeworfen werden, die Leser – wie einige seiner Figuren . absichtlich zu irritieren und schließlich auch zu desorientieren, damit das Finale besser passt und der große, aber nicht unbedingt überraschende rote Vorhang nicht nur vor den Augen der Raumschiffcrew, sondern auch der Leser weggezogen werden kann. Liff ist dabei der konträre Entwurf, denn sie sieht die künstlich vorangetriebene Terraforming Evolution auf ihrer Welt aus der direkten Perspektive mit den entsprechenden Herausforderungen, Rückschlägen und kleinen Triumphen. Dabei erreicht Adrian Tchaikovsky angesichts des kosmopolitischen Hintergrunds seiner Geschichte nicht die Intensität, mit welcher Kim Stanley Robinson über tausende von Jahren und damit auch leider tausende von Seiten aus dem roten Mars schließlich einen blauen zweiten Planeten des Sonnensystems gemacht hat. Was bei Kim Stanley Robinson in der entsprechenden Trilogie wie ein jegliche Spannung und Handlung erdrückender Prozess erschienen ist, wirkt im vorliegenden dritten Roman der Serie plötzlich sprunghaft, rudimentär und seltsam konstruiert. Natürlich gibt die Pointe, das Finale dem Autoren Recht. Aber gleichzeitig hat er auch Unrecht. Wenn ich als Schriftsteller ein solches, in der Science Fiction in unterschiedlichen Variationen zu Toten gerittenes Konzept auf eine latent andere Art und Weise entwickeln möchte, dann sollte diese Welt auch in sich stimmig sein. Oder der Schriftsteller schlüpft gleich in die Welt der Science Fantasy und entwickelt eine gänzlich phantastisch surrealistische Handlung. Es fällt schwer, sich zwischen diese beiden Stühle zu setzen und den ersten wie bislang besten Roman der Serie inhaltlich und dramaturgisch übertreffen zu wollen. An dieser ehrgeizigen Ambition muss selbst ein routinierter Schriftsteller wie Adrian Tchaikosvky scheitern, wenn er auf der einen Seite breit und umfangreich, auf der anderen Seite aber angesichts der Seitenzahl auch überrascht konzentriert seine Geschichte weiterentwickeln möchte.   

Die Konzeption des Plots erfordert vom Leser, die vielen teilweise auf den ersten oder zweiten Blick unwichtigen Ideen/ Bestandteile/ Implikationen gegen Ende noch einmal aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Grundsätzlich ist das auch die Absicht des Autoren, es kommt sicherlich auch hinsichtlich der Tiefe des Konzepts überraschend, aber es ist nicht Leserfreundlich, wenn dieser an der eigenen Auffassungsgabe zweifelt und Inhalte auf den ersten Blick akzeptieren muss, für die er während der Lektüre keine offensichtliche Basis gefunden hat. Dieser Vorgehensweise – bedingt durch die finale Pointe – wirkt desillusionierend und steht konträr zu den Enden der ersten beiden Bücher, in denen Tchaikovsky keinen Moment gezögert hat, noch einen Schritt weiter zu gehen, eine weitere Idee auf den letzten Meter zu präsentieren,  aber schließlich in den Tiefen seines Kosmos stehen zu lassen.

Wie Stephen Baxters Visionen basierend auf Olaf Stapledons kosmopolitischen Romanen ist die ganze bisherige Serie mit unterschiedlichen Themen, aber auch inhaltlichen Wegen  eine existentielle Auseinandersetzung mit dem Menschen nach seinem selbstzerstörerischen Akt und dem verzweifelten Suchen nach einem neuen Platz in einem Kosmos voller fremdartiger, ihm nicht nur intellektuell, sondern teilweise auch körperlich überlegener Wesen, mit denen die Reste der Menschheit aber keinen Krieg, sondern eine Lebensbasis suchen.  Charismatische Charaktere, nicht immer voll entwickelt; ein bekanntes, aber verführerisch surreal entwickeltes „Was wäre wenn“„ Szenario und die Frage, „was kommt nach der Wahrheit“ zeichnen diesen dritten Band einer intellektuell stimulierenden, aber auch stellenweise hinsichtlich der Idee eines Zwiebelschalenmodells mit immer umfangreicher werdenden Konzepten noch nicht abgeschlossenen Science Fiction Magnum Opus Serie aus. Die Lektüre ist stellenweise unnötig fordernd, dann wieder oberflächlich, aber Adrian Tchaikovsky Stärke liegt in der fortlaufenden Präsentation von Ideen und erinnert ein wenig an den opportunistischen David Brin, der mit seinem Debüt „Startide Rising“ und der „Uplift“ Serie in dieser Hinsicht Pionierarbeit geleistet hat, welche Adrian Tchaikovsky intelligent, aber manchmal nicht provokant genug für das 21. Jahrhundert überarbeitet.   

 



Die Feinde der Zeit: Gewinner des Hugo Award 2023 für Beste Serie - Roman (Die Zeit-Saga, Band 3)

  • Herausgeber ‏ : ‎ Heyne Verlag; Deutsche Erstausgabe Edition (13. Dezember 2023)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Taschenbuch ‏ : ‎ 560 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 3453322924
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3453322929
  • Originaltitel ‏ : ‎ Children of Memory